Außenfassade der Elbphilharmonie in Hamburg
04.09.2020

Etwas Unerhörtes bis dahin... Villa Seligmann eröffnet Ausstellung zum Orgelstreit

Soll sich das jüdische Leben dem nichtjüdischen angleichen oder seine Eigenarten bewahren? Darüber stritten orthodoxe und reformorientierte Jüdinnen und Juden im 19. Jahrhundert nicht zuletzt in musikalischer Hinsicht.

Es gab Kreise, die die Orgel in der Synagoge hören wollten, ein Musikinstrument, das bis dahin vor allem mit dem Christentum verbunden wurde. Den Streit um die Existenz der Orgel in der Synagoge hat eine Ausstellung in der Villa Seligmann, dem Haus für jüdische Musik in Hannover beleuchtet. 

Auf der Orgel in der großen Halle der Villa Seligmann erklingt ein Werk von Moritz Deutsch. Das Instrument ist im 19. Jahrhundert gebaut, der Komponist wurde Anfang des gleichen Jahrhunderts geboren. Er lernte in Wien beim bekannten Sakralmusiker Salomon Sulzer, wurde von der Musik der Romantik wie von seinem jüdischen Lehrmeister beeinflusst. Das habe sich auch in Moritz Deutsch` Werken niedergeschlagen, sagt Organist Martin Dietterle: "Moritz Deutsch hat relativ viel Sachen von jüdischen Gesängen, von Rabbiner-Gesängen auch vertont für die Orgel. Und natürlich dann in diesem Klanggewand der Zeit. Sehr romantisch und es gibt einige Stücke, die tatsächlich fast auch so ein bisschen choralartigen Charakter haben, wo der Coral dann - ich weiß nicht, ob man Choral sagen darf an dieser Stelle – aber den Choral durch alle Stimmen einmal bearbeitet und der sehr nah so an romantischen Orgelbearbeitungen auch liegt."

Eine eigene jüdische Musiksprache für die Orgel musste sich erst entwickeln, war das Instrument doch bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts in den Synagogen unerwünscht. Sie sollten schlichte Versammlungs- und Bethäuser sein, aber kein Ersatz für den Jerusalemer Tempel, der im Jahr 70 nach Christus zerstört wurde. Israel Jacobson, Jahrgang 1768, aus dem niedersächsischen Seesen sah das anders. Er setzte sich dafür ein, die jüdische Liturgie zu reformieren, sagt Gabriela Kilian, die die Ausstellung kuratiert hat: "Der hatte in Seesen eine Freischule gegründet, die hatte eine kleine Synagoge, und in dieser kleinen Synagoge wurde 1810 erstmalig die Orgel gespielt. Das war etwas Unerhörtes, was ihm viele Juden auch vorwarfen. Und das hat die orthodoxe Seite natürlich aufgebracht. Die Spannbreite der Argumente ist, dass den Liberalen vorgeworfen wird, dass sie sich vom Judentum abwenden würden."

Die Liberalen hielten dem entgegen, sie wollten das Judentum erneuern, denn nur so könnte es bewahrt und in die Zukunft geführt werden. Liberale Synagogen hießen auch manchmal "Tempel". Hier ist unser Mittelpunkt, sollte das sagen, und nicht in Jerusalem. Denn mit der Aufklärung hatte die jüdische Emanzipation begonnen. Ab Mitte des 18. Jahrhundert wuchs das jüdische Selbstbewusstsein, in vielen Städten Deutschlands wurden Synagogen errichtet, etliche von ihnen mit Orgel. Doch jüdische Organisten gab es noch nicht, sagt Gabriela Kilian: "Es sah so aus, dass man Melodien, Weisen übernommen hat aus dem protestantischen Gottesdienst und erst nach und nach kamen dann eigene Stücke. Mit am bedeutendsten als Reformer dieser musikalischen, jüdischen Liturgie sind Salomon Sulzer und Louis Levandovski zu nennen. Und gerade bei dem Letzteren, der auch dann die Möglichkeiten hatte, an der Orgel zu spielen, hat da versucht, dann eben alte Weisen aufzunehmen."

Auf 20 Tafeln im ersten Stock der Villa Seligmann kann man die 130-jährige Geschichte dieses Streits um die Orgel im Judentum mit all seinen Akteuren gut nachvollziehen. Dazu beleuchten Noten und Zeitungsausschnitte in acht Vitrinen das Thema in der gesellschaftlichen Wahrnehmung. Es sind Dokumente des Umbruchs im Judentum, sie stehen aber auch für Ideenreichtum und Lebendigkeit, seine Musik weiterzuentwickeln. Nach der Shoah setzte eine starke Rückbesinnung auf das originär Jüdische ein, die Orgel scheint vollkommen out bis heute. So erlebt es der Direktor der Villa Seligmann, Eliah Sakakushev-von Bismarck: "Damals war das die liberale Bewegung, die das letztendlich eingeführt hat - wenn man auf sie heute zugeht und sie fragte, ob sie sich vorstellen können, eine Orgel zu haben, kriegt man eigentlich sehr oft eine Ablehnung."


NDR Info, Schabat Schalom


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Den Streit um die Existenz der Orgel in der Synagoge beleuchtet jetzt eine neue Ausstellung in der Villa Seligmann
Informationstafel zum Orgelstreit (Ausschnitt)
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