Außenfassade der Elbphilharmonie in Hamburg
31.01.2023

Visual journalism statt Fotojournalismus

Der Fotojournalismus muss sich in Zeiten der digitalen Transformation neu erfinden. Für den renommierten Studiengang Fotojournalismus und Dokumentarfotografie der Hochschule Hannover Grund genug, sich umzubenennen und neu auszurichten. „Visual journalism and documentary photography“ heißt er seit 2022 und setzt stärker als bisher auf das Visuelle als Teil eines multimedialen Storytellings – auch als Reaktion auf die Veränderungen des Medienmarktes. 

"Ein ganz großer Punkt, den wir haben, der für uns so superwichtig ist in der Fotografie, ist die Blickführung. Bei Virtual Reality haben wir das nicht. Wir haben eine 360°-Kamera, die im Prinzip einmal alles aufnimmt und wir wissen am Ende gar nicht, wo schauen die Leute hin", sagt Niklas Grüter und führt in das Thema Virtual Reality ein. Der Absolvent der Hochschule Hannover arbeitet als „visual journalist“, was auch den Bereich Video miteinschließt. Für seine Dokumentation „Growling Sea“ im VR-Format hat er die Isolation von Seeleuten auf einem Containerschiff portraitiert.

Mit dem Blick durch die VR-Brille stehen die Studierenden quasi selbst an der Reeling, ziehen den Kopf ein, wenn ein Container knapp vor ihrem Gesicht vorbeischwenkt, besuchen die Brücke oder beobachten einen Seemann im Aufenthaltsraum. Geräusche, Video und Sprechertext werden zur immersiven Dokumentation. Ist das noch Journalismus?

"Bei VR reden wir tendenziell von Story-Living statt dem eigentlichen Storytelling, wie wir es kennen, also das Erzählen wird in gewisser Weise aufgegeben. Wir geben eine gewisse Freiheit, diesen Raum zu erkunden. Aber trotzdem gibt es eine Autorenschaft im Hintergrund, weil man sich ja trotzdem damit beschäftigt, was möchte ich erzählen? Was sind die Inhalte, die mir hier wichtig sind? Welche Stimmen höre ich und aber auch trotzdem: Welchen Raum sehe ich? Und in welcher Abfolge sehe ich die Räume zum Beispiel."

Der VR-Workshop dient der Vorbereitung auf den sogenannten „educational newsroom“. Ab dem Herbst sollen in Hannover Studierende in den Bereichen Foto, Video, Social Media und VR lernen, wie sie in einer crossmedialen Redaktion zusammen arbeiten. Immer mehr große Medienhäuser in Deutschland setzen auf Teams mit unterschiedlichsten Spezialist:innen, sagt Professor Michael Hauri.

"Wir versuchen, das interdisziplinär ineinander greifen zu lassen. Das bedeutet, dass man gemeinsam am Tisch sitzt und beispielsweise Geschichten von Beginn an gemeinsam konzipiert, dass eben jemand, der jetzt eher aus dem Bereich Grafik oder Datenvisualisierung kommt noch einmal seine Expertise oder ihre Expertise reingeben kann. Und jemand, der vom Text/Social Media kommt, eben auch noch einmal sagen kann, worauf man vielleicht draußen achten soll, wenn man mit der Kamera oder dem Mikrofon unterwegs ist."

Videos zum Anklicken, Nachrichten im Story-Format, Podcasts – visueller Journalismus spielt bei Spiegel Online eine riesengroße Rolle, sagt Jens Radü. Der Chef vom Dienst baute 2006 das Mulitmedia-Ressort mit auf, 2019 promovierte er über das digitale Storytelling. Viele technische Revolutionen habe er seitdem erlebt, auch die VR-Technik wurde schon getestet.

"Wir haben dazu erste Experimente gemacht, tatsächlich eine App gebaut und versucht, das auch zu testen, wie das bei den Userinnen und Usern ankommt. Und es war wahnsinnig spannend, denn es war ein sehr immersives Erlebnis, was die Leute, die es dann genutzt haben, auch begeistert hat. Aber in der Masse, in der Breite ist das einfach noch nicht so weit angekommen, dass wir uns als an der Masse und der Breite auch orientiertes Medium darauf wirklich fokussieren können. Aber da tatsächlich mit Experimenten immer weiterzumachen, ist ein großes Ziel."

In der Hochschule Hannover ist der Containerfrachter inzwischen in seinen Hafen eingelaufen. Anjou Vartmann, Fotografin und Studentin im ersten Semester, hat die VR-Brille abgenommen und schwankt noch etwas. Text, Bild und Ton kombiniert mit dem 360°-Rundumblick – das hat die 23-Jährige zum Nachdenken angeregt: 

"Ich glaube, das ist auch ein Teil, der einem hier beigebracht wird: Raus aus dem „es gibt nur das oder das oder das“ hin zu „ich kann vielleicht alles zusammen benutzen“. Was mir jetzt ganz persönlich ganz neue Wege auch eröffnet, die vielleicht möglich sind, um Dinge noch beeindruckender auch anderen weiterzugeben."


Beitrag für DLF, Mediasres


 


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Über mich

Agnes Bührig, freie Autorin mit Berichtsgebiet Niedersachsen und Nordeuropa. Berichte, Reportagen und Features über Kultur und Gesellschaft, Podcast und Moderation..

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