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08.03.2013

Zum Frauentag aus dem Archiv: Geschlechtsneutrales Pronomen für mehr Gleichberechtigung in Schweden

Schweden gilt als Vorzeigeland in Sachen Gleichberechtigung von Frau und Mann. Die Gleichbehandlung von Mädchen und Jungen steht bereits im Lehrplan des Kindergartens. Im Kindergarten Egalia lernen die Kleinen das Kunstwort „hen“ zu benutzen, das weder sie oder er bedeutet, sondern geschlechtsneutral auf männliche und weibliche Wesen referiert. Bericht vom Frauentag 2013 aus Stockholm

Ein gemütlicher Buchladen für Kinderliteratur im Alternativviertel Södermalm in Stockholm. In den Regalen sind die Abenteuer frecher Mädchen und Buben wie Pippi Langstrumpf und Willi Wiberg zu finden. Auf einem roten Samtsofa neben einer Kaffetheke hat es sich Johanna von Horn bequem gemacht. Die Buchhändlerin blättert in „Kivi und die weinende Goraffe“, in dem die Wörter „er“ und „sie“ durch ein geschlechtsneutrales Pronomen ersetzt wurden und in dem ein Mischling aus Gorilla und Giraffe im Mittelpunkt steht.

Die Goraffe ist ein Mischling. Das ist weniger normativ und wohl die Idee bei diesem Buch insgesamt. Denn auch Kivis Familie ist wild zusammengewürfelt und zeigt, dass es keine Rahmen und keine Begrenzungen gibt. Das wird übertrieben, um es deutlich zu machen, zum Beispiel mit Wortschöpfungen wie Mappa und Pamma für die Eltern. Ich sehe das als Experiment mit Worten und vor allem mit dem Geschlecht.

Auf dem Buchdeckel ist Kivi abgebildet: Es trägt einen gestreiften Ganzkörperanzug, eine karierte Mütze und eine übergroße Brille. Im Text wird es ausschließlich mit dem neuen Personalpronomen „hen“ bezeichnet, eine Mischung aus „er“ und „sie“, also geschlechtsneutral. Auch der Name der Figur gibt keinen Hinweis darauf, ob es ein Mädchen oder ein Junge ist. Das soll die Leser davon abhalten, in Stereotypen zu denken, sagt Marie Tomicic vom Verlag Olika:

Die Sprache beeinflusst, wie wir die Umwelt sehen. Und wenn wir ein neues Wort bekommen, was macht das mit unserem Blick auf die Umwelt und auf uns selbst? Ein Beispiel dafür ist die Geschichte eines neunjährigen Mädchens, das gerne Batman sein wollte. Ihre Umgebung antwortete damit, dass das nicht gehe, weil Batman ein „er“ ist. Dann kam sie auf „hen“. Wenn ich „hen“ bin, kann ich sowohl Batman als auch ein Mädchen sein. Für sie war das eine Möglichkeit, die Grenzen von er und sie zu überwinden.

Nisten sich sexistische Vorurteile in der Sprache ein? Auch in einem Land, das seinen Kindern vorschreibt, sich in der Schule Margarine statt Butter aufs Brot zu schmieren und in dem dogmatisch verbissen diskutiert wird, wie Vätern noch mehr Elternzeit abgetrotzt werden kann, ist das einigen zu viel der Volksbevormundung. Und so ist ein Streit über Sinn und Zweck von „hen“ ausgebrochen. Elise Claeson, Sozialwissenschaftlerin, gehört zu den Kritikern:

Das Wort „hen“ kann Kinder stark verwirren. Zum einen, weil es normalerweise nicht im Schwedischen auftaucht, das um uns herum gesprochen wird. Zum anderen, weil sein Gebrauch das Bilden einer Geschlechtsidentität stört. Diese entwickelt sich nämlich just im Kindergartenalter. Da wird man sich bewußt, dass man das eine oder das andere ist. Die Mädchen haben ihre Prinzessinnenphase, die Buben spielen mit Spielzeuggewehren.

Dabei wäre die schwedische Sprache geradezu prädestiniert, „hen“ in ihren Wortschatz aufzunehmen. Denn neben Maskulinum und Femininum gibt es noch das Geschlecht Utrum. Es umfasst männlich und weiblich, und bezieht sich - anders als das Neutrum – auf belebte Objekte.

Bei den Pronomen hingegen, muss man allerdings auch auf Schwedisch auf den Punkt kommen, hen wäre hier eine Ergänzung. Dass sich mit oktroyierter Sprachpolitik zudem mehr Gleichstellung erreichen lässt, hält Elise Claeson für fraglich:

Schweden ist weit gekommen in Sachen Gleichstellung. Hier wurden alle Gesetze erlassen, die eine gleichberechtigte Gesellschaft braucht und die es Frauen und Männern ermöglichen, selbst zu entscheiden, wie sie leben wollen. Trotzdem gibt es geschlechtsbedingte Unterschiede. In der Genusforschung gab es lange die Auffassung, man könne das durch Verhaltenstraining ändern. Der Mensch verändert sich ständig, aber es geschieht organisch und langsam. Wir passen uns an unsere Umgebung an. Das geschieht nicht von einer Generation zur nächsten oder durch einen Reichstagsbeschluss.

Im Kindergarten Egalia in Stockholm sieht man das anders. Hier hält man den Kritikern entgegen, eine geschlechtsneutrale Erziehung eröffne Kindern neue Lebensräume. Dann nämlich, wenn nicht stereotyp vorgegeben ist, dass Mädchen mit Puppen spielen und Buben mit Autos. Deshalb animieren die Pädagogen die Kinder dort ganz bewusst, die vielleicht für ein Mädchen fremde Welt von Technik und Autos zu erkunden und Buben, mit Puppen zu spielen, sagt Kindergartenleiterin Lotta Rajalin:

Viele glauben, dass das ein Experiment ist. Aber das ist es nicht. Wir versuchen einfach nur, allen Kindern alle Möglichkeiten zu geben. In unserer Aktivitätsstation „Bau und Konstruktion“ zum Beispiel haben wir nicht nur Autos und Kräne. Dort gibt es auch Babypuppen und Stofftiere. Auf diese Weise können die Kinder vielfältig und mit Tiefgang spielen. Und alle können etwas finden, was für sie passt. Und wir haben beobachtet, dass unsere Kinder in der Schule dann auch stärker darauf achten, was sie für Aktivitäten wählen und nicht mit wem. Sie sind weg gekommen von diesem „wir Mädchen“ oder „wir Buben“ und wählen inhaltlich.

Es hat sich schon viel getan in Sachen gleichberechtigte Erziehung im Kindergarten, sagt Christian Eidevald, der über die geschlechtsspezifische Erziehung in Kindergärtenpromoviert hat. Aber immer noch steuerten unbewusste Vorurteile, wie wir Kindern begegnen, gibt der Forscher zu bedenken:

Ich habe viel in Kindergärtengefilmt. Dabei habe ich beobachtet, dass die Erzieher zwar behaupteten, sie behandelten die Kinder individuell. In den Aufnahmen zeigte sich aber, dass es in der Praxis immer wieder nicht gelangt. Das zu ändern, ist schwer, denn es ist tief in uns verwurzelt. Und es geht ja auch nicht darum, dass Mädchen zu Buben werden sollen und umgekehrt. Es geht um Variation – und das alle Kinder, alle Möglichkeiten erhalten sollen, sich zu entwickeln.

Die Erziehungsarbeit der Vorschule Egalia oder ein Buch wie Kivi und die weinende Goraffe fördern die Diskussion darüber, wie Geschlechter-Stereotypen aufgebrochen werden können. Die Geschlechterrollen an sich lassen sich damit jedoch nicht von heute auf morgen ändern, sagt Buchhändlerin Johanna von Horn. Dafür bräuchte es noch ganz andere Geschichten. Denn auch in schwedischen Kinderbüchern stünden Mütter noch viel zu oft am Herd. Die Realität der Kinder ist aber bereits eine ganz andere.


Ein Beitrag für ORF – Ö1 – Europa-Journal


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Agnes Bührig, freie Autorin mit Berichtsgebiet Niedersachsen und Nordeuropa. Berichte, Reportagen und Features über Kultur und Gesellschaft, Podcast und Moderation..

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