Skyline von Oslo im Werden
04.06.2019

Besuch in der Literaturszene von Oslo

Was fällt Ihnen ein, wenn Sie an norwegische Literatur denken? Karl Ove Knausgård, Maja Lunde, Krimis von Jo Nesbø? Dass es mehr gibt, zeigte Norwegens Auftritt als Gastland der Buchmesse Frankfurt 2019. 

Gesprächsabend im Literaturhaus von Oslo. Im Keller des mächtigen Hauses gegenüber des Schloßparks diskutieren zwei Schriftstellerinnen verschiedener Generationen das literarische Werk Georg Johannesen. Sein Essayband „Über die norwegische Denkweise“ von 1975 ist gerade neu aufgelegt worden. Seine Analysen zu Literatur und Politik sind bis heute aktuell, spiegeln sie doch die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität, sagt die Schriftstellerin Vigdis Hjorth.

Identitätspolitik ist heute ein wichtiges Thema. Zu Georg Johannesens Zeit war sie von der Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse geprägt. Man sagte: Ich bin Arztfrau oder Lehrerin, das waren einfache Kategorien. Sie verhinderten nicht, dass du dich mit existenziellen Fragen beschäftigen musstest, aber heute mit den sozialen Medien funktioniert Selbstdarstellung anders als in meiner Jugend. Dem Zwang, ein Bild von dir zu präsentieren, entkommst du nicht, und damit der Frage: Wer bin ich.

Vigdis Hjorth, Jahrgang 1959 und eine der wichtigen literarischen Stimmen Norwegens, hat diese Frage auch zum Thema ihres jüngsten Romans gemacht. „Der Gesang der Lehrerin“ handelt von der Hochschuldozentin Lotte, deren Selbstverständnis durch die Darstellung im Film eines Absolventen ins Wanken gerät. Mit ihrem Roman „Berljots Familie“ befeuerte sie zudem vor drei Jahren eine Debatte, die seit Knausgårds autobiographischem Werkzyklus „Min Kamp“ schwelt, sagt der Programmchef des Literaturhauses, Andreas Delsett.

Das große Thema der letzten Jahre ist die „Wirklichkeitsliteratur“, wie wir das in Norwegen nennen. Die Debatte wurde zuletzt durch das Buch von Vigdis Hjorth „Berljots Familie“ genährt, in dem es autofiktiv um sexuellen Missbrauch und Erbstreitigkeiten ging. Aber die Form gab es schon länger. Es geht um gelebtes Leben und Literatur - das ist die große Debatte, die die norwegische Literatur jetzt schon viele Jahre geprägt hat – und auch weiterhin prägen wird.

Eine Debatte, die auch auf dem deutsch-norwegischen Literaturfestival weitergeführt wurde, das unter dem Motto „Auf dem Weg nach Frankfurt“ stand. Lesungen, Vorträge und Diskussionen – an drei Tagen im April strömten rund 5000 Menschen ins Literaturhaus Oslo, um sich über die deutschsprachige Gegenwartsliteratur zu informieren. Und über ein Verhältnis, das in Schieflage ist: Während dieses Jahr mehr als 250 Bücher aus dem Norwegischen ins Deutsche übersetzt werden, sind es vom Deutschen ins Norwegische keine 20 Titel, sagt der Schriftsteller Erik Fosnes Hansen. Der Mitinitiator des deutsch-norwegischen Literaturfestivals hofft, dass sich das zukünftig ändern könnte, nicht zuletzt wegen Fernsehserien wie „Ku´damm 56“ oder „Babylon Berlin“.

In Norwegen gerade jetzt werden zum Beispiel unglaublich viele deutschsprachige Fernsehserien ausgestrahlt und gesehen und geliebt von den Zuschauern und das liegt natürlich daran, dass derzeit sehr viele gute solche Serien aus Deutschland kommen. Und das haben jetzt die norwegischen Fernsehseher entdeckt. Jetzt bleibt zu sehen, ob dann auch das norwegische Buchpublikum die deutsche Gegenwartsliteratur entdeckt.

Denn auch das ist eine Auswirkung von Norwegens Gastauftritt in Frankfurt im Herbst: Die deutschsprachige Literatur ist wieder ein bisschen mehr in den Fokus gerückt. Das beobachtet auch Merete Pharo, die in der Buchhandlung Tronsmo in der Innenstadt von Oslo gerade die Regale einräumt.

Ich sehe, was die Verlage übersetzen lassen, und das sind bei deutscher Literatur relativ geringe Auflagen, so wie bei Franzobel mit „Das Floß der Medusa“. Dieses Buch hat aber durch das deutsch-norwegische Literaturfestival sehr viel mehr Aufmerksamkeit bekommen. Der Autor war hier, und das Ganze wurde auf Deutsch abgehalten. Und es gibt nicht mehr so viele Leser wie noch vor 20 Jahren, die Deutsch können. Da ist ja klar, dass es gut ist, dass das Buch übersetzt wurde.

Ob also auch deutsche Literatur in Norwegen nachhaltig wahrgenommen wird und ob das Interesse an norwegischer Literatur in Deutschland bestehen bleibt, wird sich zeigen – nach der Buchmesse Frankfurt im Oktober.


DLF Kultur Bücherleben


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Norwegen ist Gastland der Buchmesse Frankfurt 2019
Literaturhaus Oslo (Foto: Agnes Bührig)
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Über mich

Agnes Bührig, freie Autorin mit Berichtsgebiet Niedersachsen und Nordeuropa. Berichte, Reportagen und Features über Kultur und Gesellschaft, Podcast und Moderation..

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